Einzigartige Quelle zur Geschichte jüdischer Überlebender der Shoa
In dieser Kladde sind folgende Angaben eingetragen und meist mit einem Passfoto versehen worden: Name und Vorname, Geburtsdatum, Nationalität, früherer Wohnort, Beruf, „im Lager von ... bis...“, Haftorte, Häftlingsnummer, Passnr. (1 bis 104) und Empfangsvermerk. Auch wenn eine präzise Datierung der Quelle nicht möglich ist, kann festgestellt werden, dass der große Teil der Pässe nach der Befreiung im Jahr 1945 ausgegeben worden sein muss. Gelegentlich sind Daten der Aushändigung eines Pass-Duplikats genannt.
Auf den Rückseiten der Fotos finden sich gelegentlich Herstellerstempel von Fotografen aus Neustadt und Lübeck. Die häufige Nennung des Haftortes Stutthof und des Befreiungsdatums 3.5.1945 dürfte darauf hindeuten, dass die Betreffenden den Evakuierungs-Transport über die Ostsee von Stutthof nach Neustadt / Holstein auf den Binnenschiffen „Wolfgang“ und „Vaterland“ und den Massenmord am Strand von Pelzerhaken überlebt haben.
Weiterhin deutet auf Neustadt hin, dass sich drei Passinhaber in Uniformteilen der Kriegsmarine, Überzieher für Unteroffiziere mit goldenen Knöpfen oder blauen Blusen für Mannschaften haben porträtieren lassen. Bekannt ist, dass die britische Besatzungsmacht den Neustädter Überlebenden die Kleiderkammer der Marinekaserne zur freien Selbstbedienung geöffnet hatte.
Welche 103 Personen werden in diesem Register genannt? Es sind alles jüdische Überlebende der Konzentrationslager, die einen Bezug zu Neustadt haben. So war Inhaber des Passes Nr. 3 der jüdische Kunstmaler Walter Preisser, der die KZ Auschwitz und Mittelbau-Dora überlebte und in Neustadt befreit wurde. Er wurde 1945 Lehrer an der ORT-Schule (Jewish Vocational School) in Neustadt und zog mit der Schule 1948 nach Hamburg um. Hans Böhmerwald, Pass Nr. 7, ist im Landeskrankenhaus in Neustadt gepflegt worden, wie aus Archivalien aus den Arolsen Archives zu entnehmen ist.
Die Quelle ist familienbiografisch und historisch ungemein spannend, v.a. für Angehörige, die dem Buch nicht nur ein Portraitfoto, sondern auch Daten zu Haftorten und die Original-Unterschrift ihrer von Nationalsozialisten verfolgten Familienmitglieder entnehmen können.
Wir stehen vor der Frage, welche Institution die Pässe ausgegeben hat. Die Jüdische Gemeinde in Hamburg, die 1945 wiedergegründet wurde, hat die „Pässe“ wohl nicht ausgegeben. Um Pässe des „Komitees ehemaliger politischer Gefangener“ hat es sich, wie ein Abgleich von Passnummern gezeigt hat, auch nicht gehandelt. Vermutungen, eine jüdische Organisation in Neustadt oder Lübeck oder die damalige Hamburger „Hilfsgemeinschaft der Juden und Halbjuden“ könnte das Register erstellt haben, ließen sich bisher nicht bestätigen. Dr. Reimer Möller, reimer.moeller@gedenkstaetten.hamburg.de, freut sich über Hinweise.